Eisockey-Bundestrainer Harold Kreis im Interview: "Ich bin nicht der Boss"

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Eisockey-Bundestrainer Harold Kreis im Interview: "Ich bin nicht der Boss"

Bundestrainer Harold Kreis hat Einblick in seine Gedanken kurz vor Beginn der Eishockey-WM gegeben.
Bundestrainer Harold Kreis hat Einblick in seine Gedanken kurz vor Beginn der Eishockey-WM gegeben.AFP
Ein Jahr nach dem Silbercoup geht Bundestrainer Harold Kreis in seine zweite Eishockey-WM. Im Interview mit dem Sport-Informations-Dienst (SID) spricht der 65-Jährige über die hohen Erwartungen, den Verzicht auf zwei Topscorer und den Meistermacher als Co-Trainer.

SID: "Harold Kreis, wie oft sind Sie in den letzten Tagen gefragt worden, ob nach WM-Silber Gold kommt?"

Harold Kreis: "Sicher zweistellig." (lacht)

SID: "Und was antworten Sie?"

Kreis: "Ich verstehe die Frage, sie ist berechtigt. Die Silbermedaille haben wir sehr hart erarbeitet, aber es gehört viel mehr dazu: Fortune, Momentum, ein glückliches Tor zum richtigen Moment. Wir bleiben kämpferisch, aber wir sehen auch mit viel Demut und Respekt dieser neuen Aufgabe entgegen."

SID: "Ihr Team hat Erwartungen geweckt, die es so an eine deutsche Eishockey-Nationalmannschaft noch nie gab."

Kreis: "Ja, das stimmt. Aber das ist Vergangenheit. Wir müssen uns alles wieder neu erarbeiten - über unsere Spielweise, unsere Identität. Dass die Mannschaft einen hohen Anspruch an sich hat, hat mit Marco Sturm begonnen, Toni Söderholm hat das fortgesetzt, und ich habe das so übernommen. Da ändert sich nichts. Aber Gewinnen ist kein Wunschkonzert, für uns heißt das harte Arbeit und Fokus."

"Müssen uns alles von null wieder erarbeiten"

SID: "Wie gehen Sie mit den Erwartungen um?"

Kreis: "Wir bleiben auf dem Boden und wissen, dass das nicht unser Hauptthema sein darf. Wenn es von außen kommt, ist es in Ordnung, aber es wird unsere Arbeit und unsere Einstellung nicht ändern."

SID: "Die Spieler haben es aber auch selbst so formuliert. Nach dem Finale von Tampere hieß es: Wir kommen wieder, wir sind hier noch nicht fertig."

Kreis: "Ich glaube, das sagt man häufig. Wenn ich ein gutes Restaurant besucht habe und aufstehe und gehe, sage ich auch: Ich komme wieder, ich war noch nicht fertig. (lacht) Das ist eine Floskel, wenn ich es so sagen darf - sicher aus dem Affekt eine sehr emotionale Aussage. Aber die Wahrheit ist, dass wir uns alles von null an wieder erarbeiten müssen."

SID: "Die jüngere Vergangenheit zeigte eher das Gegenteil: Nach Olympia-Silber 2018 gab es Platz elf bei der WM, nach dem WM-Halbfinale 2021 kam das frühe Olympia-Aus in Peking. Ist die Gefahr, nach einem sensationellen Erfolg abzustürzen, besonders groß?"

Kreis: "Ich war ja selbst nicht dabei, aber die Spieler sprechen darüber, wir gehen mit Tom Kossak, unserem Sportpsychologen dieses Thema an. Einige, die das erlebt haben, sagen, dass sich die Mannschaft selbst zu sehr unter Druck gesetzt hat und nicht frei aufspielen konnte. Das darf uns nicht passieren. Das heißt nicht, dass wir ohne Erwartungen in das Turnier gehen, aber es darf für uns keine Belastung sein."

SID: "15 Vize-Weltmeister sind wieder dabei. Haben Sie sich im Zweifel eher für den Spieler entschieden, den sie aus dem Vorjahr kennen?"

Kreis: "Es geht darum, wer die Rolle am besten erfüllt. Und uns ist es wichtig, dass es einen guten Teamspirit und einen guten Zusammenhalt gibt."

SID: "Kann man den von einer WM zur nächsten tragen?"

Kreis: "Nein, auch dort fangen wir von null an. Wie Nico Sturm es schon gesagt hat: Wir dürfen nichts kopieren. Was im Vorjahr funktioniert hat, muss nicht zwingend wieder funktionieren. Man muss offen sein für Sachen, die sich ergeben, es muss organisch wachsen."

Seiders Ausfall schmerzt

SID: "In der Verteidigung fehlen NHL-Star Moritz Seider und Leon Gawanke, zwei absolute Leistungsträger."

Kreis: "Das stimmt, es sind zwei spielerisch sehr starke Verteidiger, die diesmal nicht dabei sind. Sie zu ersetzen, ist eine kollektive Aufgabe. Wir haben einige Verteidiger, die sich sehr gut entwickelt haben, dabei: Maksymilian Szuber, Kai Wissmann, Jonas Müller."

SID: "Ist die Offensive noch stärker besetzt als letztes Jahr?"

Kreis: "Anders. Wir haben mehr Top-Sechs-Stürmer, mehr Auswahl an offensiven Stürmern."

SID: "So gut besetzt, dass Sie den DEL-Spieler mit den meisten Scorerpunkten pro Spiel, den Mannheimer Matthias Plachta, zu Hause lassen?"

Kreis: "Aber ich habe mich verbessert, letztes Jahr habe ich die drei besten zu Hause gelassen. (lacht) Auch ich lerne dazu."

SID: "Zeigt das, wie hoch die Qualität in der Offensive ist?"

Kreis: "Es geht darum, dass die Spieler so vollständig wie möglich die Rollen erfüllen. Toreschießen ist wichtig, aber es gehören auch andere Bestandteile des Spiels dazu, und mit schwerem Herzen habe ich Matthias gesagt: Für die Rolle, die wir suchen, ist er nicht der Richtige."

SID: "War das auch beim DEL-Torschützenkönig Justin Schütz so?"

Kreis: "Wir brauchen den besten Spieler in der besten Verfassung für eine bestimmte Rolle. Und in diesem Fall war es leider nicht Schützi."

SID: "Und bei den Torhütern?"

Kreis: "Da haben wir zwei sehr, sehr gute. Ich habe schon beim Besuch in Seattle gespürt, dass Philipp Grubauer Bock auf die Nationalmannschaft hat. Und wir haben Mathias Niederberger, einen fantastischen Torwart."

SID: "Letztes Jahr hat Niederberger neun von zehn Spielen bestritten. Wie wird die Aufgabenteilung jetzt sein?"

Kreis: "Es wird sicher eine Aufteilung geben, wir haben zwei Nummer-eins-Torhüter."

SID: "Der Trainerstab hat sich verändert. Der Berliner Meistercoach Serge Aubin ist Ihr Co-Trainer. Wie funktioniert das?"

Kreis: "Er hat sehr viel Verantwortung - eigentlich nicht weniger als im Klub, außer dass ich die Ansprache vor der Mannschaft mache und die letzte Entscheidung fälle. Aber er hat die Verantwortung für die Stürmer, für das Powerplay. Er ist ein fantastischer Trainer mit sehr viel Erfahrung, hat schon gewonnen, kann sehr gut mit den Spielern. Für uns geht es immer darum, die bestmögliche Person zu finden. Er war begeistert, dass wir ihn gefragt haben."

SID: "Und es ist kein Problem, dass Sie der Boss sind?"

Kreis: "Ich bin nicht der Boss, ich habe einfach die letzte Entscheidung. Aber darum geht's ja nicht. Wir stehen ja nicht in Konkurrenz zueinander. Er empfindet es absolut nicht als Herabstufung, weil wir alle voneinander profitieren. Auch ich profitiere von seiner Expertise."

SID: "Ist ein Cheftrainer nur so gut wie seine Assistenten?"

Kreis: "Genau. Steve Jobs (Apple-Gründer/Anm. d. Red.) hat gesagt: Ich hole nicht gute Leute, damit ich ihnen sage, was sie zu tun haben, sondern damit sie mir sagen, was ich zu tun habe. So funktioniert es auch hier."

SID: "Noch mal zurück zum Anfang. Gold ist nicht das Ziel, was dann?"

Kreis: "Wir wollen das Viertelfinale erreichen. Das muss das erste Ziel sein. Das Turnier ist sehr gut besetzt, viele NHL-Spieler kommen. Da müssen wir auf der Hut sein."